Eine der Techniken, derer sich die erste Generation der französischen Surrealisten in ihrem ?zweckfreien Spiel des Denkens? (André Breton, Manifeste du Surréalisme) bediente, entnahm sie einer Welt, der sie sich kaum verbunden gefühlt hat, aus den Salons der Bürger- und Adelskreise des 18. und 19. Jahrhunderts, in denen zum Zeitvertreib Wörter und Bilder kollektiv aneinandergereiht wurden. Daß später vor allem Kinder Freude an diesem Spiel, speziell an seiner grafischen Variante, fanden, dürfte den Surrealisten eher gefallen haben.
Sie gaben dem Spiel einen Namen, der so nur ihrem Zirkel entsprungen sein konnte, ?Cadavre Exquis?, der köstliche Leichnam, nach dem ersten verbürgten Resultat ihrer Matches: ?Le cadavre exquis boira le vin noveau?, ?der köstliche Leichnam wird den neuen Wein trinken.? Breton sollte sich später erinnern, dass die Cadavre Exquis als Spaß begannen, aus dem dann Ernsteres wurde. Ähnliche Techniken spielten in William Burroughs? und Brion Gysins Cut-Up-Experimenten eine Rolle; eine andere Verbindung ließe sich zu Verfahrensweisen der Mail Art ziehen.
Als am 07. Dezember 2013 sechs Künstler in der Staatsgalerie Prenzlauer Berg Cadavre Exquis herstellten, geschah dies schon im Bewußtsein dieser Tradition, jedoch genauso aus einer Kontinuität des Hauses heraus. Im Vorjahr hatten acht Maler der Galerie (Micha Brendel, Jürgen Eisenacher, Martin Frese, MK Kaehne, Eoin Llewellyn, Ronald Lippok, Frank Siewert, Igor Tatschke) die Ausstellung ?Der dankbare Kühlschrank sinnt auf einen leichten Körper" (Hybridogramme oder kollektive Einzelnachweise) mit gezeichneten Cadavre Exquis bestritten. Diesmal entstanden Collagen. Ihr Ausgangsstoff waren populärwissenschaftliche Zeitschriften, deren ethnologischen und naturwissenschaftlichen Ilustrationen noch zwischen zeichnerischer Darstellung und der aufkommenden Fotografie im Druck schwankten. In zwei Gruppen zu je drei Teilnehmern wurde dieses Material zuerst gesichtet und dann figürlich zusammengesetzt. Getreu den Cadavre-Exquis-Reglement fügten die Teilnehmer ihre Fundstücke aneinander, ohne zu wissen, was der Vorgänger ?zusammngestückelt? hatte. Ebenso wurde bei der Titelfindung verfahren.
Am Ende des Abends lagen Arbeiten vor wie ?Zwei bewußte Gutmenschen schnurren den europäischen Fehler? oder ?Das elegante Volk räumt ein weinerliches Ding?; die Figuren erinnern an verrückte Hohepriester oder ordnen ein Herrscherportrait einem diabolischen Gehirn unter. Schon das ist Interpretation. ?Was zum Bereich des Bildes gehört, kann von der Vernunft nicht reduziert werden und muß im Bild verbleiben, andernfalls zerstört man sich?, schrieb Antonin Artaud in seinem ?Manifest in klarer Sprache? und fügte hinzu: ?Aber dennoch herrscht eine Vernunft in den Bildern, es gibt viel klarere Bilder in der Welt der bildhaften Lebenskraft.? Cadavre Exquis, Surrealismus also nicht als Flucht in den Irrationalismus, sondern als Auslotung des Zufalls und der Einmaligkeit, als ein Denken, das sich nicht selbst amputiert.
Robert Mießner
Sie gaben dem Spiel einen Namen, der so nur ihrem Zirkel entsprungen sein konnte, ?Cadavre Exquis?, der köstliche Leichnam, nach dem ersten verbürgten Resultat ihrer Matches: ?Le cadavre exquis boira le vin noveau?, ?der köstliche Leichnam wird den neuen Wein trinken.? Breton sollte sich später erinnern, dass die Cadavre Exquis als Spaß begannen, aus dem dann Ernsteres wurde. Ähnliche Techniken spielten in William Burroughs? und Brion Gysins Cut-Up-Experimenten eine Rolle; eine andere Verbindung ließe sich zu Verfahrensweisen der Mail Art ziehen.
Als am 07. Dezember 2013 sechs Künstler in der Staatsgalerie Prenzlauer Berg Cadavre Exquis herstellten, geschah dies schon im Bewußtsein dieser Tradition, jedoch genauso aus einer Kontinuität des Hauses heraus. Im Vorjahr hatten acht Maler der Galerie (Micha Brendel, Jürgen Eisenacher, Martin Frese, MK Kaehne, Eoin Llewellyn, Ronald Lippok, Frank Siewert, Igor Tatschke) die Ausstellung ?Der dankbare Kühlschrank sinnt auf einen leichten Körper" (Hybridogramme oder kollektive Einzelnachweise) mit gezeichneten Cadavre Exquis bestritten. Diesmal entstanden Collagen. Ihr Ausgangsstoff waren populärwissenschaftliche Zeitschriften, deren ethnologischen und naturwissenschaftlichen Ilustrationen noch zwischen zeichnerischer Darstellung und der aufkommenden Fotografie im Druck schwankten. In zwei Gruppen zu je drei Teilnehmern wurde dieses Material zuerst gesichtet und dann figürlich zusammengesetzt. Getreu den Cadavre-Exquis-Reglement fügten die Teilnehmer ihre Fundstücke aneinander, ohne zu wissen, was der Vorgänger ?zusammngestückelt? hatte. Ebenso wurde bei der Titelfindung verfahren.
Am Ende des Abends lagen Arbeiten vor wie ?Zwei bewußte Gutmenschen schnurren den europäischen Fehler? oder ?Das elegante Volk räumt ein weinerliches Ding?; die Figuren erinnern an verrückte Hohepriester oder ordnen ein Herrscherportrait einem diabolischen Gehirn unter. Schon das ist Interpretation. ?Was zum Bereich des Bildes gehört, kann von der Vernunft nicht reduziert werden und muß im Bild verbleiben, andernfalls zerstört man sich?, schrieb Antonin Artaud in seinem ?Manifest in klarer Sprache? und fügte hinzu: ?Aber dennoch herrscht eine Vernunft in den Bildern, es gibt viel klarere Bilder in der Welt der bildhaften Lebenskraft.? Cadavre Exquis, Surrealismus also nicht als Flucht in den Irrationalismus, sondern als Auslotung des Zufalls und der Einmaligkeit, als ein Denken, das sich nicht selbst amputiert.
Robert Mießner